Mitten am Rand

eine gedankliche Nachlese – After Biennale…

Die Komplexität meiner Gedanken in verständlichen Bildern zu transportieren wird herausfordernd.
So herausfordernd, dass ich gerade denke, ach lass es einfach.
Doch wie ißt man einen Wal?
Stück für Stück (ist nur ein Bild, benutze ich häufig, würde nie Wal essen ;-))

Also gibt es 3 Teile und viele Bilder, die sagen ja bekanntlich eh mehr als Worte. Der erste Teil meiner Gedanken bezieht sich auf das Gesamtbild meiner kurzen, intensiven Reise, der zweite auf die Kunst, der dritte auf mein Fazit.

Also. Here my try.

3 Tage Biennale

Prolog:

Kann/darf ich fliegen? Kann/darf ich bei den vorliegenden Fakten um die derzeitige Lage in der Welt fliegen und auch noch schauen, dass mein Budget im Rahmen bleibt? Was möchte ich meinen Enkeln vorleben?

Ich kann nicht nicht. Also auf geht’s.

Part I

Ankunft:
Venedig, trifft mich mal wieder so kitschig schön in mein Herz, dass ich es kaum aushalten kann. Diese einzigartige Kulisse, diese Farben, dieser Charme. Mein Künstlerherz juchzt und staunt und meine Augen und mein Herz können sich nicht satt sehen an dieser Pracht. Ja, ich bin verliebt. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder.

Und auch verstört, immer wieder, immer wieder, immer wieder. Ein Wegsehen, sehenden Herzens, vor der Perversion des Massentourismus nicht möglich.
Doch Weggehen ist möglich.
Wenn Menschen in Massen auftreten, gilt es für mich Abstand zu nehmen. Es fällt mir schwer, die Berge von Plastikflaschen zu sehen, wenn ich doch in Venedig an über 100 Trinkbrunnen mit sehr guter Wasserqualität meine Flasche füllen kann. Doch Wenige nutzen sie.
33 Millionen Menschen treffen jährlich auf 60.000 Bewohner der Altstadt. Der Tourist will sein Sehnsuchtsziel erreichen und trägt dadurch zu seiner Zerstörung bei. Also meide ich die Orte, an denen die Menschen ausgespuckt werden und sich in Strömen auf die Plätze ergießen und gehe.

Denn jenseits der Ameisenwege gibt es noch ein ganz anderes Venedig. Mit Plätzen, auf denen die Alten unter Bäumen sitzen und miteinander reden. Viel Lachen höre ich.
Ich esse in Lokalen mit Einheimischen und genieße die vielen Orte, an denen die Magie dieser Stadt so spürbar ist. Und mache Bella Figura ☺

Meine Unterkunft liegt in der Nähe des Arsenale und damit auch in der Nähe der Touristenrestaurants und Buden mit Zeugs. Aufgewühlt bin ich. Auch das macht Venedig immer mit mir. Setze mich auf die Ufersteine und blicke auf die einzigartige Kulisse.
Und während ich dies schreibe, zieht ein Gewitter auf. Die Herde blökt, weil dicke Wassertropfen vom Himmel platschen. Die Natur spricht mal wieder. Ich laufe durch die Pfützen und es entstehen meine Lieblingsbilder.
Ich bin klatschnass und bekomme zum ersten Mal seit ich hier bin so richtig Luft.

Auch die nächsten zwei Tage verbringe ich abseits der Ströme. Ja, das ist möglich! Dies als Antwort auf die Menschen, die mich mit großen Augen gefragt haben: „Juli? Venedig? Wirklich?“
Wenn du gut vorbereitet, morgens als 22. in der Einlassschlange vor dem Arsenale stehst, hast du sogar die großartige Möglichkeit, die Exponate in Ruhe zu genießen, mit den noch frischen „Ask me“ Guides über eben diese zu diskutieren und dich nahezu allein mit all den Eindrücken zu fühlen. Wenn Du Dich sattgesehen hast, steigst du am besten in den Vaporetto und schaust dir die Beiträge in Guidecca, oder auf San Giorgio Maggiore an. Dort sind kaum noch Menschen.
Zum gelungen Abschluss steigst du in die linke 2 und lässt dich entspannt rüber an den Lido schippern.

Und schon verfällst du ihr wieder. Hoffnungslos! Dieser wunderschöne Kulisse mit dem verborgenen Herz einer besonderen Geschichte und magst dich kaum trennen…la Serenissima, ja, ich fühle mich heiter und gelassen.
Arrivederci in 2 Jahren

Part II

May You Love in interesting times

Das Motto der diesjährigen Biennale. Punkt. Punkt. Punkt.

1893 beschloss der Stadtrat von Venedig, im zweijährlichen Rhythmus eine Ausstellung der italienischen Kunst (Esposizione biennale artistica nazionale) ins Leben zu rufen. Mit 224.000 Besuchern war sie ein großer Publikumserfolg.

2017 endete mit einem Besucherrekord. Die Zahl der Besucher stieg um 23 Prozent auf 615.152. 31 Prozent davon waren Jugendliche unter 26 Jahren.

Ralph Rugoff, der diesjährige Kurator sagte in seinem mission statement:
Letztendlich strebt die Biennale Arte 2019 nach dem Ideal, dass das Wichtigste an einer Ausstellung nicht das ist, was sie ausstellt, sondern wie das Publikum seine Erfahrungen mit der Ausstellung hinterher nutzen kann, um Alltags¬realitäten aus erweiterten Blick¬winkeln und mit neuen Energien entgegen zu treten. Eine Ausstellung sollte die Augen der Menschen öffnen für bislang nicht bedachte Lebens¬möglichkeiten und so ihre Sicht auf die Welt verändern.
Ich habe mir die Arbeiten der teilnehmenden 79 Künstler aus dieser Perspektive angesehen und die vielfältigen Eindrücke hier wiederzugeben ist mir unmöglich. Daher ein paar Bilder wissend, ich werde auch hier der Komplexität nicht mal ansatzweise gerecht.

Den diesjährigen Gewinner des goldenen Löwen – die Burn-Out Oper Sun and Sea, den litauischen Länderbeitrag, konnte ich mir leider live nicht ansehen.
Frankreich hat mich begeistert, da es Laure Prouvost in Ihrer Installation gelungen ist, einen berührenden skurrilen Karneval zu gestalten, in dem ich mich auf liebevolle und phantasievolle Art zum Nachdenken und vor allem Nachspüren aufgefordert gefühlt habe.
Deep See Blue Surrounding You

Mark Justiniani hat im philippinischen Pavillion mit „Island Weather“ ein Archipel begehbarer Kaleidoskope geschaffen. Optische Spektakel und direkte Konfrontation.
Das hat mich umgehauen und es war so real, dass sich so mancher nicht getraut hat, die Trittleitern auf die Glasplatten zu nutzen. Ich hätte Tage darauf liegen bleiben können! Staunend, wie wir täuschen lassen können.

Die Beiträge aus China haben mich in mehrfacher Hinsicht angesprochen. Sowohl durch den spannenden Exkurs in den chinesischen Pavillion, mit den Möglichkeiten der totalen Überwachung durch Gesichterkennung, als auch durch die beiden Arbeiten des Duo Sun Yuan und Peng Yu.
„cant help myself“, ein sensorenbewehrter Industrieroboter, die Blutmaschine und ein verfremdetes Lincoln Memorial mit einem unkontrolliert um sich schlagendem Schlauch auf dem Präsidentenstuhl. Absolut beeindruckend!

Fast zärtlich schön, das Neon Denkmal von Tavares Strachan für den ersten afro-amerikanischen Astronauten.


Die Übersetzung von Thinking Heads von Lara Favaretto hat mir als Begriffsdefinition affinen Menschen sehr gefallen. Abstrakte Begriffe in kleine Arrangements übersetzt.

Mit dem deutschen Pavillion konnte ich dieses Jahr überhaupt nichts anfangen. Düster, karg und schulmeisterlich. Platt, fand ich ihn.

Aus dem brasilianischen Pavillion mit seinen charismatischen Darstellern, mochte ich mich kaum lösen. Der Hammer! Eine absolut mitreißende Dynamik!
Transsexuell, gay, queer und unfassbar stolz und schön.

Tja und dann war da noch das Boot. Es hat mich am meisten beschäftigt, da ich mir immer noch kein wirkliches Fazit erlauben möchte: ist das Kunst oder kann das weg?!
Es hat mich tagelang nicht losgelassen, weil es einfach nicht fassbar ist! Und weil es mich so betroffen gemacht hat und unendlich traurig. Aber es hat sich auch wie Grabschändung angefühlt. PUH.

Von Sean Scully und seiner Arbeit Human, war ich enttäuscht. Größe und Farbe ist eben nicht alles.

Das Field Hospital , den Länderbeitrag aus Israel, fand ich vielschichtig und gelungen.

und mein persönliches HEILlight war mal wieder Hrafnhildur Arnardottir, die unter dem Pseudonym Shoplilfter grellbunte Fellskulpturen kreeiert. Ich habe mich als krönenden Abschluss in die von ihr in eine farbbadbunte Höhle umgestaltete Produktionshalle hineinfallen lassen und, begleitet von sphärischen Klängen, ein ausgiebiges Farbbad genommen. Ganzkörperkunst zum Anfassen und Verschmelzen…. nicht mit sondern IM Kuscheltier sein. Tröstlich irgendwie.

Part III

Ich bin ehrlich, nach diesen 3 Tagen ist mein Optimismus, was die Menschheit angeht etwas kleiner geworden. Sind wir zu einer konsumgeilen und sich dabei knipsend um uns herumdrehenden Art geworden?! Keine Ahnung, wie die Tonnen Selfieschrott irgendwann einmal entsorgt werden.

What are u doing to make things better?

DIE Frage, die mich seit dem mehr denn je begleitet und wirklich laut in mir schreit!

Um ehrlich zu sein, war ich richtiggehend pissed!
Wenn Künstler dramatisch aufzeigen was los ist und sich nichts ändert, manifestieren sie dadurch nicht sogar das System? Diesen Gedanken hatte ich bei dem ein oder anderen Exponat. Künstleregozeugs.
Hier ein guter Background für das obligatorische Selfie, dort ein wenig Konsum…Ich bin verwirrt, ertappe ich mich doch auch immer wieder bei genau dem!

Mir persönlich reicht das jedenfalls nicht und an keinem Ort der Welt wurde für mich aktuell diese menschliche Perversion deutlicher. Ein, sich um sich selbst drehender Kunstbetrieb auf der einen und der konsumgetriebene umweltzerstörende wirmüssenallessehenundhaben Tourismus auf der anderen Seite. Ich bin etwas überfordert gerade..

Fazit: Mitten am Rand fühle ich mich.

Es ist mir aber auch noch wichtiger geworden, etwas beizutragen.

Mein bisheriger Ghandi-Leitsatz: Be the change your want to see in the world

ist irgendwie zu klein geworden.

Lead the change, you want to see in the world

wird ihn ersetzen.

Und vielleicht ist das auch gar kein Unterschied.

Wenn Du Lust hast, in die Diskussion über dieses Thema einzusteigen, so schreib mir gern in die Kommentare.

Ich freue mich auf Deine Perspektive.

Stay inspired

Birgit, nachdenklich

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